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Österreichische Vereinigung für Supervision und Coaching

Aktuelles

Informationen über neue Entwicklungen am Beratungsmarkt sowie Aktivitäten in der ÖVS.

Ambiguität und strukturierte Kommunikation.

Betrachtungen zu 25 Jahren ÖVS-Qualitätsentwicklung. Michaela Judy (News 2/2019)

Die 90er Jahre waren die Dekade der EU-Erweiterung, des EU- Beitrittes Österreichs, des Zusammenbruchs des Ostblocks, der politischen Neuorientierung, des Wirtschaftsliberalismus. Es war auch die Dekade der ersten Sparpakete, des beginnenden Infrage-Stellens des Sozialstaats, der sich verschärfenden Bedingungen fürMigrantInnen.
Auch der Qualitätsdiskurs ist ein Kind der 90er – „Qualität“ wurde im Bildungs-, Gesundheits-und Sozialbereich zu etwas, das zu sichern und strukturiert nachzuweisen sei „Qualitätssicherung“ wurde zu einem Geschäftsfeld.

Erfolgsgeschichte ÖVS
Als die ÖVS sich 1994 gründete, stand neben der Berufspolitik die Qualitätssicherung im Fokus. Die Gründungsidee selbst ist eine spektakuläre Kooperationsidee: Konkurrenten auf dem damals gerade expandierenden Ausbildungsmarkt unterwarfen sich freiwillig gemeinsam erarbeiteten Qualitätskriterien.
Dass dies gelungen ist, ist die große Erfolgsgeschichte der ÖVS. Es hat ermöglicht, ÖVS-Standards österreichweit bei Organisationen und Institutionen als Synonym für Qualität zu verankern. Es macht die Attraktivität des Verbandes für seine rund 1.300 Mitglieder aus.
Die Entwicklung der ÖVS führt sinnfällig vor Augen, dass die Balance von Konkurrenz und Kooperation höchst produktiv sein kann, wird sie sorgsam gehandhabt und in Kommunikation gehalten.
Ich bin seit 1995 Mitglied und habe die Entwicklungen unseres Berufsverbandes in unterschiedlichen Naheverhältnissen und Funktionen zunächst verfolgt, später auch mitgestaltet. Etwa zur selben Zeit habe ich begonnen, große und kleine Bildungsprojekte einzureichen und durchzuführen, was mich ganz unmittelbar mit der Frage konfrontierte, Qualität von (Aus )Bildung und Beratung so zu konkretisieren, dass die Beschreibungen und die Anforderungen der Praxis kompatibel werden.
Mehrere Qualitätsentwicklungs-Prozesse später – als verantwortliche Managerin wie auch Beraterin – habe ich es zusammen mit sieben KollegInnen aus der ANSE unternommen, die gängigen Definitionen und Ansätze zu sichten und zusammenzuführen. Zu sichten und darzustellen, was Supervision & Coaching auf europäischer Ebene denn nun sein und leisten solle, worin ihre Qualität bestehe. Im EU-geförderten Projekt ECVision wurden dazu ein Glossar und ein Kompetenzprofil für Supervision & Coaching entwickelt.
Deklariertes Ziel war es, Instrumente zur Verfügung zu stellen, die der Vergleichbarkeit supervisorischer Kompetenzen dienen. Vergleichbarkeit erfordert zu allererst gemeinsame Kriterien; dazu haben wir uns in ECVision vor allem der bereits etablierten EQR-Prinzipien bedient, die auf dem Prinzip der Lernergebnisorientierung beruhen. „Lernergebnisse treffen Aussagen darüber, was ein Individuum am Ende eines Lernprozesses weiß, kann, und in der Lage ist, zu tun, sowie über den Grad der erwarteten Autonomie“. Die ECVision-Produkte zielen allerdings nicht auf eine Harmonisierung der verschiedenen Ansätze ab, sondern auf Schaffung von Transparenz und Vergleichbarkeit.
Seit 2015 ist das leicht adaptierte Kompetenzprofil auch Grundlage der ÖVS-Ausbildungsstandards.

Unsicherheit und strukturierte Kommunikation
Das war ein wegweisender Schritt, der nun in Beziehung gesetzt werden muss zum konkreten Geschehen in der Ausbildungspraxis und in den professionellen Diskursen. Denn sicherlich ist Qualität in der Beratung nicht widerspruchsfrei beschreibbar, sie emergiert bestenfalls aus konkreten Interaktionen, aus dem Zusammenspiel von Beziehung, Prozess und Auftrag, das der professionellen Beziehung eigen ist.
Ich möchte also anschließend einige Überlegungen anstellen zu Chancen und Risken der Kompetenzorientierung, also des Versuchs, supervisorisches Können zu beschreiben. Kompetenzen benennen Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen oder Haltungen, und beziehen sich auf die beschreibbare Performance, auf Transparenz dessen, was gekonnt werden soll, durchaus auch dessen, was gekonnt werden will.
Verloren geht, was die Widerständigkeit und Widerstandsfähigkeit von Menschen wie Systemen ausmacht: die Position der radikalen Subjektivität.
Ein dialogisches „Verstehen“ dieser Position ist zwingend an Unterschied, Unsicherheit, Verspieltheit, Überraschung und Offenheit, vielleicht auch Widerstand gekoppelt. Alle „Äußerungen“ tragen stets Fragmente aus allen unseren bisherigen sprachlichen Interaktionen sowie Bedeutung aus dem vorhergehenden Zusammenhang in sich. Auf diese Weise sind alle Äußerungen „doppelt geäußert“,, wie M.M. Bachtin es nennt, die Stimme der Vergangenheit mit dem im Hier und Jetzt gesprochenen, die Stimmen der Widerständigkeit mit denen der Zustimmung in einem ständigen inneren wie äußeren Dialog.
All dies ist kaum beschreibbar im Jargon der Lernergebnisorientierung, dafür umso wichtiger in Beratungsprozessen. Es ist das schmuddelige Geschwister der Auftragsklärung, der Hypothesenbildung und der zielgerichteten Intervention. Eines ist ohne das andere nicht zu haben in unserer Profession. Ambiguität ist jeder professionellen Beziehung als Strukturmerkmal eingeschrieben. Es ist unsinnig, entscheiden zu wollen, ob Supervision und Coaching nun der Anpassung an den Arbeitsmarkt oder der Erweiterung der individuellen Handlungsmöglichkeiten diene. Die professionelle Beziehung ist stets auch eine Geschäftsbeziehung, in der Autorität, wechselseitige Abhängigkeiten und Intimität – und dies noch dazu im Mehrfachkontrakt, tw. Mehrpersonensetting – balanciert werden müssen.
Es verunmöglicht Reflexivität, wenn der Einfluss der Ambiguitäten und Widersprüche negiert wird, der Einfluss dessen, was nicht gesagt wird, aber ebenfalls wirksam ist. Die Magie der Reflexivität liegt in der Erkenntnis, dass die Trennung des Beobachters vom Beobachteten eine Fiktion ist. Durch die Art, wie wir beobachten, erzeugen wir unterschiedliche Beschreibungen, auf die unsere Gegenüber wiederum unterschiedlich reagieren können, eine sich selbst permanent produzierende und reproduzierende Dynamik menschlicher Interaktionen. In diesen Interaktionen gibt es kein letztes Wort, keinen letztgültigen Code und keine endgültigen Wahrheiten.
Qualitätssicherung hingegen braucht klare Beschreibungen, eine Art von „Bollwerk gegendie Beliebigkeit“, das definiert, auf welche berechenbaren Gemeinsamkeiten man sich geeinigt hat und verlassen kann. Das „Bollwerk“ ,die Sicherung aber entsteht paradoxerweise aus der ständigen Neuaushandlung, dem Infrage-Stellen, das seinerseits des gesicherten Rahmens bedarf, weil sonst der Diskurs in die Beliebigkeit rutscht.
So bietet das ÖVS-Kompetenzprofil die gemeinsam akzeptierte Rahmenstruktur, innerhalb derer die Aushandlung über Auslegungen, Sinnhaftigkeiten und (Geschäfts-)Interessen stattfinden kann. Es ermöglicht gemeinsame Kriterien für die Beobachtung, Beschreibung, Bewertung und Validierung der beruflichen Performance, sowie eine gemeinsame Sprache über berufliche Identität und berufliche Beziehungen.
Das ist nicht wenig, es ist Ausdruck der gemeinsamen Basis. Qualität in der Beratung lässt sich aber, genau genommen, nicht sichern, sondern nur in permanenter strukturierter Kommunikation halten.
Kompetenzorientierung ist nur eine mögliche Beschreibungslogik für Qualität in der Supervision. Allerdings: Eindeutige Beschreibungen, die eindeutig beobachtet werden können, existieren in unserer Profession nicht. Den Konfliktfeldern der Ambiguität unbeschadet zu entkommen, ist eine Illusion. Um sie qualitätsentwickelnd zu nutzen, ist ein ständiger fachlicher Dialog erforderlich.

Michaela Judy (News 2/2019)